Kurzgeschichte 01: “Das kleine Vogelparadies”

Freude und Leid mit einer großen Voliere - Eine wahre traurige und herzliche Geschichte

Noch heute, nach zwanzig Jahren, schüttelt man in Sevilla den Kopf über das, was sich da eines Nachmittags mit mir und Miguels Familie ereignete. Es war dort unser erster gemeinsamer Besuch und ich, als ”Fremdling”, wurde mit offenen Armen und Herzen aufgenommen.

Wie gesagt, inmitten der großen Familie saß ich nun in dem ziemlich aussichtslosen Bemühen, die Sprache der Andalusier in irgend einer Form mit meinen wenigen Spanischkenntnissen zu erraten. So ungefähr müßte sich ein Ausländer fühlen, der mit einigen Deutschkenntnissen plötzlich in eine oberbayrische Familie verpflanzt würde, selbst ein Norddeutscher wäre da ziemlich aufgeschmissen. Wer weiß, zu welchen Gesprächen ich meist nur höflich gelächelt oder genickt habe und aus eben diesem Grunde könnte das folgende Fiasko entstanden sein.

Es war wohl auch so, dass ich in einem längeren Gespräch und auf irgendwelche Fragen ahnungslos gelächelt haben muss, denn einer der Brüder verschwand für einige Zeit und kam dann mit einem kleinen Käfig herein, in dem ein Stieglitz in Panik wild hin und her hüpfte. Es sollte für mich ein Geschenk sein, soweit hatte ich es verstanden, doch das Lächeln erstarb auf meinen Lippen und ich brach in Tränen aus. Ich wollte das Geschenk noch nicht mal anschauen. Ein kleiner Vogel, der sich gegen seine Gefangenschaft wild wehrte, der vermutlich noch vor einer Stunde in Freiheit war, das war einfach das schlimmste Geschenk, das man mir machen konnte.

Die Gesichter der Familie sah ich nur noch verschwommen hinter meinen Tränen und es war für einige Augenblicke mucksmäuschen still, niemand sagte etwas. Mutter, die gerade mal rausgegangen war, trat ins Zimmer, sah meine Tränen und dann ergoss sich ein Redeschwall direkt auf Miguel, der sich laut tönend dagegen wehrte, die Arme hochriss und irgend welche Erklärungen abgab, die ich natürlich nicht verstand. Der Vogelkäfig mit Inhalt verschwand aus dem Zimmer inklusive Bruder und ganz allmählich glätteten sich die Wogen der Empörung und auch ich hatte mich wieder gefangen und versuchte zu erklären, dass ich den Anblick von Tieren in Käfigen einfach nicht ertragen könne. Später begriff ich erst, dass Mutter, die die Vogelgeschenkübergabe verpasst hatte, glaubte, dass Miguel mich irgend wie beleidigt, ich deshalb geweint hätte und sie aus diesem Grunde diese furchtbare Schimpfkanonade auf den völlig unschuldigen Sohn losgelassen hatte.

Nun, Miguel wusste ja nun aus Erfahrung, dass Vögel hinter Gittern besser nicht in meine Nähe kommen sollten und auch die Erklärungen, dass Kanarienvögel, diese wunderbaren Sänger, sich in ihren kleinen Käfigen rundum wohl fühlten, da sie ja sonst gar nicht singen würden, konnte meine Einstellung dazu nicht ändern. Doch eines Tages geschah dann etwas, was so quasi der Anfang dazu war, dass ich stückchenweise meine Meinung änderte.

An irgend einem Frühlingstag brachte Miguel eine flügellahme Wildtaube nach Hause, die sich so benahm, als würde sie uns schon lange kennen. Aus Erfahrung wissend, dass ich nie damit einverstanden wäre, den so zutraulichen Vogel in einen kleinen Käfig zu sperren, begann Miguel mit einem Bauprojekt, dass sich zunächst zu einer größeren Behausung der Taube entwickelte. Es entstand also ein mit Maschendraht umgebener Platz von etwa 2 Quadratmetern und einer Höhe von anderthalb Metern mit einem entsprechenden Eß- und Badezimmerinventar für Paula, so hatten wir die Taube inzwischen getauft. Trotz allem Komfort, das ich meinte, unserer Paula bieten zu müssen, blieb es einfach ein recht trauriger Anblick, denn Paula war mutterseelenallein in einer für sie doch zu riesigen Wohnung. Was lag da näher, als mal in einer Zoohandlung nachzufragen, ob wir dort einen Wildtäuberich kaufen könnten, was man mit Kopfschütteln beantwortete. Nun, bei diesem Besuch sah ich dann nicht nur einen kleinen Vogel in einem Minikäfig, sondern gleich zehn oder mehr auf engstem Raume zusammengedrängt und am liebsten hätte ich alle Käfige geöffnet oder alle Piepmätze einfach gekauft, um sie aus dieser unsäglichen Enge zu befreien. Leider sind ja für derart spontane Kaufaktionen die fehlenden Gelder die Bremsvorrichtung und so blieb es bei vier Piepmätzen, die wir mit nach Hause nahmen.

Welch unbeschreibliches Glücksgefühl, wenn man nun so ein kleines Federbällchen aus dem Kerker befreit, in dem es nur hüpfen, nicht einmal die Flügel ausbreiten kann, wenn es dann an einen Ort gebracht wird, wo es von Ast zu Ast fliegen kann. Nun ja, so dachte ich immer wieder, aus dem engen Kerker ist es befreit, jedoch ein Gefängnis, wenn auch weit komfortabler und größer, ein Gefängnis bleibt es.

Natürlich sorgten wir nun für Komfort des Vogelheimes mit Ästen und Stäben für die Start- und Landebahn und ich bastelte kleine Nester, die auch sofort als Schlafzimmer benutzt wurden. Die beiden Zebrafinkenpärchen turtelten auf schwankenden Ästen, zupften sich gegenseitig die Federn zurecht und waren im Liebesspiel unermüdlich. So dauerte es auch gar nicht lange, dass sich Nachwuchs in Form von kleinen Eiern in den Schlafzimmern ankündigte und die Weibchen mit der Brutzeit völlig ausgelastet waren. Nach zwei Monaten hatte sich die Einwohnerzahl des Vogelhauses um neun schnabelaufreißende Jungfinken erhöht und die Eltern hatten alle Fittiche voll zu tun, bis ihr Nachwuchs das gut gepolsterte Nest verlassen konnte. Kaum waren die Kleinen der elterlichen Fürsorge entwöhnt, begann das Nesterbauen erneut und selbst der Nachwuchs ahmte die Aktivitäten der Eltern nach, was mich dazu veranlasste, weitere, kleine Nester zu basteln, die sie dann auch flugs auspolsterten, mit Strohhalmen, Federn, Watte, Dinge, die wir ihnen als sogenanntes Konstruktionsmaterial boten, wobei es nicht selten zu Gerangel um das Polstermaterial ging, während wir solche Auftritte lachend beobachteten.

Inzwischen konnte ich es nicht unterlassen, hin und wieder die Zoohandlung aufzusuchen und diesen oder jenen Piepmatz mitzunehmen, dem ich dann, während er in einem kleinen Karton ängstlich trippelte, versprach, dass er nun in ein kleines Paradies käme.

Es war wohl etwa nach einem Jahr eitler Freude, die sogar Paula mit uns teilte, dass wir am frühen Morgen kein fröhliches Gepiepse hörten und mit weit aufgerissenen Augen in das Vogelhaus starrten, wo nur Paula alleine zwischen blutbespritzten Federn und toten Vögeln herumtrippelte. Wir waren entsetzt und konnten es kaum glauben, und was noch viel schlimmer war, dass es unser Fehler war, wie wir es später erfuhren. Wir hatten nämlich, in Unwissenheit, nur ein normales Drahtgitter, kein verzinktes, starkes, benutzt und daher hatte ein Marder oder ähnliches Wildtier, den Draht durchbeißen können und ein Blutbad unter unseren Lieblingen angerichtet.

Was nun? Paula war ja noch da und für sie sollte auch in den nächsten Tagen der flotte Täuberich ankommen. Also wurde kurzerhand das verzinkte Material gekauft und mühsam Bahn für Bahn mit Draht vernäht und außerdem das gesamte Vogelheim noch auf weitere Quadratmeter vergrößert, denn wenn schon, denn schon. Durch die erneute Bautätigkeit und den dann einsetzenden Befreiungskauf der “Kerkervögel” auf den stets dieses freudige Gefühl einer guten Tat folgte, vernebelte sich die Erinnerung an die Mordnacht.

Erzählenswert ist, dass unsere Katzen schon als Dreikäsehoch die Erfahrung machten, dass Vögel, für sie unerreichbar, hinter einem Gitter leben. So wurde die Voliere für sie das erste Programm der Fernsehserie “Alles was Federn hat fliegt” und wir amüsierten uns köstlich, wenn unsere Mietzen sich völlig konzentriert die emsige Geschäftigkeit hinter dem Drahtgitter ansahen. Dass aber auch Mäuse hin und wieder sich Körner aus den Näpfen holten und wie der Blitz über Äste und Zweige davonflitzten, das war immerhin ziemlich aufregend für sie.

Nun, leider nicht nur Mäuse, sondern auch Landratten, die in ländlichen Gegenden durchaus ihre Existenzberechtigung haben, hatten sich durch die untere Natursteinmauer so ganz klammheimlich einen Tunnel gebaut, der unter dem Zementboden der Voliere zu einem Körnerdepot anwuchs. Warum die Menge der verpickten Körner von Monat zu Monat anwuchs, das wurde uns erst klar, als wir im Mondenschein einer romantischen Sommernacht größere, dunkle Schatten von Ästen zu Futternäpfen wuseln sahen und im Licht einer Taschenlampe entdeckten, wie und wo die Räuber mit ihrer Beute verschwanden. Aus Angst um unsere Gefiederten, wurde in dieser Nacht Wache geschoben und bei jedem Rascheln und Knistern sprang einer von uns auf und gebärdete sich wie ein zischender Ganter.

Im Laufe der Jahre waren die gefiederten Einwohner der Voliere zahlenmäßig kaum noch festzustellen, denn das Durchzählen wurde immer wieder durch Starten und Landen neuer Flugobjekte gestört. Es werden so um die dreißig bis vierzig Piepmätze gewesen sein, als ich auf die Idee kam, ihnen noch eine bessere Möglichkeit zum Fliegen zu bieten. Grad gedacht, als Miguel dann auch schon dabei war, das gesamte Wohngebäude um einen 2.50 Meter hohen und zwei Quadratmeter großen Flugplatz zu erweitern. Stunden haben wir als glückliche Flugbeobachter verbracht und fast mit empfunden, wie toll es sein muss, plötzlich ausgedehntere Flugreisen unternehmen zu können.

Ausgedehnt oder nicht ausgedehnt, die Flugfreiheit der Vögel spukte immer noch in meinem Kopf und ich ging fast zwei Jahre mit einer Idee schwanger, die dann doch eines Tages unbedingt raus musste. Miguel war allerdings nicht so ganz davon überzeugt, dass meine Idee auch wirklich problemlos in die Tat umgesetzt werden könnte. Ein Experiment also, so dachte ich. Na egal, wenn es fehlschlug, so haben unsere Lieblinge wenigstens die absolute Freiheit mal gehabt. Ich wollte jeden Morgen den Flughafen öffnen und zu uneingeschränkten Flugreisen in die Umgebung einladen.

Und so geschah es auch. Erst zögernd, jedoch dann so nach und nach flogen rotschnäblige, weiße und grauweiß gemusterte Piepmätze von Baum zu Baum auf unserem Grundstück, trippelten mit ihren roten Füßchen auf den Tischen und Stühlen und füllten die Luft mit ihrem Gepiepse. Es waren für mich Tage vollster Zufriedenheit, denn zwischendurch kehrten sie zum Essen und Trinken in das Vogelhaus und vor Sonnenuntergang konnte ich das Flugfenster wieder schließen, denn alle waren in ihre Nester zurückgekehrt.
Zwei, es mögen auch drei Sommermonate gewesen sein, da alles gut ging, doch dann überraschte uns ein heftiger Gewittersturm durch den unsere Finken vermutlich völlig die Orientierung verloren , denn nur noch drei Pärchen kehrten unbeschadet zurück. Aus der Traum von uneingeschränkter Freiheit. Ich musste meine Idee zu Grabe tragen. Leider.

Natürlich gab es immer wieder diese oder jene Sorge um unser kleines Federvolk. Da haben wir zum Beispiel einige Sommernächte draußen vor dem Vogelhaus verbracht, da wir dort Ratten entdeckt hatten. Bei jedem Geraschel wurde sofort mit der Taschenlampe geleuchtet , so war es uns möglich, diese ungebetenen Gäste zu verfolgen und deren Nester ausfindig zu machen um, so schrecklich ich es auch finde, dem Rattenvolk ein Ende zu bereiten. Oder, die ewige Furcht während stürmischer oder kalter Regentage, dass unsere Finken nicht genügend davor geschützt wären.

Zu einem meiner unvermeidlichen Geburtstage schenkte mir ein Freund ein Wellensittichpärchen, das mit großem Hallo und Achwiesüß in das Vogelhaus einzog und sich dort auch ziemlich schnell heimisch fühlte, obwohl die Tonlage ihres Geschwiepses gar nicht so recht zu unseren Finken passte. Selbst das Gurren unserer beiden Wildtauben, die sich als lesbisch erwiesen, uns also keinen Nachwuchs lieferten, wofür wir auch, wegen des bestehenden Platzmangels dankbar waren, selbst dieses angenehme Gurren, wurde von den Sittichen laut übertönt. Nun, man gewöhnt sich ja an vieles, jedoch nicht an alles, nämlich daran nicht, dass sich der Sittichmacho zum potenziellen Sexprotz entwickelte. Das war dann doch zuviel. Dieser Don Juan verfolgte plötzlich ständig eine der Tauben und versuchte, sie bei jeder Gelegenheit zu besteigen, saß auf ihrem Rücken und zupfte in seiner Liebestollheit die Kopffedern aus. Es dauerte nicht sehr lange bis wir eine Kahlkopftaube hatten und das war dann auch das Signal zum absoluten Rausschmiss. Wir verschenkten das Pärchen an echte Sittichliebhaber, wo sie nun in einem kleinen Käfig mal überlegen können, ob es nicht besser war, als sie richtig fliegen durften.

Zwanzig Jahre sind inzwischen vergangen. Unzählige Stunden glücklicher Beschaulichkeit, sonnenbeschienener Fröhlichkeit. Die Zärtlichkeit eng aneinander geschmiegter Pärchen haben mich manchmal zu Tränen der Freude gebracht, zu einem unbeschreiblichen Glücksgefühl, dessen ich mich immer erinnern werde.

Es begann so unerwartet, so unvorbereitet. Sicher, im Laufe der Jahre gab es auch traurige Momente, wenn ein oder zwei der Vogelhausbewohner leblos am Boden lagen, doch das haben wir dann eben als naturgegebene Auslese betrachtet. Doch jetzt war es ganz anders. Eines morgens fanden wir über ein Dutzend unserer Lieblinge tot vor. Keine Anzeichen von Verletzungen oder erkennbaren Krankheiten. Wir waren entsetzt und gaben uns selbst zunächst die Schuld, dass wir den obligaten Wetterschutz erst vor einigen Tagen angebracht hatten. Es war zwar ungewöhnlich kühl und regnerisch, doch kühle Tage dieser Art waren bisher jahrelang problemlos vorüber gegangen. Zwei Tage später war es im Vogelhaus völlig still geworden, denn nur noch der Webervogel machte seine einsamen Flugrunden, doch auch ihn fanden wir am nächsten Tage leblos auf dem Boden. Wir brachten ihn zum Veterinär und erfuhren, dass unsere Vogelschar von einer Virusepidemie getötet wurden. Es war natürlich überhaupt kein Trost, der meine innere Starre hätte lösen können. Ich befand mich tagelang zunächst in einem Zustand innerer Vereisung.

Es dauerte Tage, bis ich mich zu dem Entschluss durchgedrungen hatte, das kleine Vogelparadies zu zertrümmern. Ich wollte nie wieder seine Verwandlung in ein Todeshaus erleben und so begann ich, die ersten Nester zu entfernen, doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass mich dieser stückweise Abschied derart tief aufwühlen würde. Miguel sah mein verzweifeltes Bemühen, die Fassung zu bewahren und bestand darauf, dass ich einige Tage diesen Ort meide. Wie dankbar bin ich ihm, dass er diese traurige Arbeit ganz alleine übernahm, obwohl es auch ihm ganz sicher nicht leichtgefallen ist alles das zu vernichten, was er mit viel Liebe aufgebaut hatte.

Zwanzig Jahre sind eine lange Zeitspanne, ein Lebensabschnitt der sich plötzlich in Erinnerungen an Vergangenes aufgelöst hat. Erinnerungen, die noch so lange schmerzlich bleiben werden, bis der Wind der Zeit alle Traurigkeit hinwegweht und nur noch die glücklichen Augenblicke übrig bleiben.

Es gab schon viele Momente in meinem Leben, die mich das Loslassen gelehrt haben müssten. Manchmal glaubte ich auch, dass ich es inzwischen gelernt hätte damit umzugehen. Doch ich scheine mich da geirrt zu haben. Wie alt muss ich denn noch werden, um nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen zu begreifen, dass das Leben aus ständigem Abschiednehmen besteht!

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