Kurzgeschichte 07: “Unsre Fahne flattert uns voran”

Manipulierte Jugend im zweiten Weltkrieg - Eine wahre, nachdenkliche Geschichte

Kinder spüren, wenn sie ausgegrenzt werden, wenn Erwachsene unsicher werden und es unter einer
Sonne-Wonne-Eierkuchen-Art verbergen. Vielleicht haben Kinder noch diesen tierhaften Urinstinkt, der uns im Laufe der Jahre abhanden kommt. Kinder spüren, dass etwas nicht stimmt, nur sie können es nicht beschreiben, nicht einordnen, es bleibt nur ein ahnendes Gefühl.

So sind auch in meinen frühen Kindheitserinnerungen nur Fetzen hängen geblieben, die hier und da bildlich beleuchtet sind, wie die weinende Großmutter, weil der so gütig aussehende Hindenburg gestorben war. Oder, da sehe ich mich am späten Winterabend am Fenster stehen und mit aufgerissenen Augen und Herzklopfen die Schießerei zwischen Braununiformierten und anderen Gestalten beobachten. Die Knallerei, der Tumult, zwei gefallene Körper und die Blutspuren im Schnee, sind in meiner Erinnerung eingraviert. Es sind nur Bilder ohne Zusammenhang, deren Bedeutung ich erst nach vielen Jahren erkannte.

Es begann eine Zeit, da eine unterschwellige Nervosität der Älteren spürbar wurde, denn es geschahen Dinge, über die sie nur flüsternd sprachen. Ach, und es blieben so viele meiner Fragen unbeantwortet.
“Das verstehst du noch nicht. Da bist du noch zu klein. Wenn du erwachsen bist, dann wirst du es wissen ” und viele Sätze dieser Art, die hörte ich noch viele Jahre. Es wurde getuschelt und gemunkelt, hinter verschlossenen Türen diskutiert und nur hin und wieder schnappte ich etwas auf, womit ich dann doch nichts anderes anfangen konnte, als mir meinen eigenen, kindlichen Reim daraus zu machen. Meist war es ein aufregender und unheimlicher Reim, der mich bis in meine Träume verfolgte. Es war die Zeit, da ich zwar nicht mehr an Weihnachtsmann und Osterhasen glaubte, jedoch davon überzeugt war, dass die schwarz gekleideten Zimmerleute Schwarzarbeiter seien und die Babys vom Storch gebracht würden.
Wie sollte ich nun auch verstehen, dass Großvater mich ganz böse anschaute, als ich ihm erklärte, dass ich es ganz toll fände, dass er nun auch ein Goldfasan geworden sei. Hatte ich doch diesen Namen irgend wo aufgegabelt, ohne zu wissen, dass es eine abwertende Bezeichnung für einen Uniformierten Nazi war. Ein Goldfasan war für mich eben nur ein schöner Vogel, den wir übrigens auch in unserer Voliere hatten. Opa war auch ein Goldfasan und schritt in schmucker Uniform als frühes Parteimitglied zum freiwilligen Dienst.
Wie er dann später wohl darüber gedacht haben mag, das hat er mit ins Grab genommen. Zwischen ihm und meinem Vater muss es jedoch in jener Zeit zu größeren Konflikten gekommen sein, da ich vergeblich darauf wartete, dass auch Papi sich eines Tages zum Goldfasan entpuppen würde.

Ich entsinne mich nicht, dass es auch nur eine einzige Schülerin unserer Klasse gegeben hat, die nicht, spätestens mit elf Jahren in der Jungmädchenschar mitgemacht hätte. Dunkelblauer Rock, weiße Bluse und Kniestrümpfe, schwarzes Schartuch mit Lederknoten und dann die Kletterweste, das alleine war es schon wert, dort mitzumachen. Dass die Eltern diese Bekleidung kaufen mussten, was kümmerte uns das. Die Zusammenkünfte der Jungmädel erinnerten zunächst sehr an die Pfadfindergruppen. Es wurde gesungen, gespielt, gebastelt, gewandert und viel unternommen, was Kindern und Jugendlichen normalerweise großen Spaß macht. Dass aber ganz unterschwellig bereits politische Schulungen stattfanden, das Deutschtum als zukünftiges Weltbild eingetrichtert und alle Register gezogen wurden, die heranwachsende Generation für die nationalsozialistischen Zwecke zu missbrauchen, das war diesen jungen Menschen natürlich überhaupt nicht bewusst.

So ganz allmählich wurden wir dann auch in die Richtung nationalsozialistischer Denkweise manövriert, was ja gar nicht schwierig war, denn junge Bäume sind biegsam. Wir erfuhren, dass Hitler, dieser Retter des deutschen Volkes, völlig unschuldig im Kerker gelandet war und dort unter strapaziösen Umständen sein großes Buch ”Mein Kampf” geschrieben hatte. Dass er diese Quälerei nur für sein Volk, das er so liebte, auf sich genommen hatte und dass es böse Menschen gab, die immer wieder danach trachteten, ihn zu ermorden. Ihn, den Führer, der dafür gesorgt hatte, dass es keine hungernden Arbeitslosen mehr gab, der Deutschland aus dem Dreck gezogen hatte, der sein Leben für Deutschland opferte. Da wurde dann auch Hitler zum Halbgott und wir hätten mit Freuden die größten Strapazen auf uns genommen, nur um ihm, dem größten Führer aller Zeiten, zu gefallen.

Blond, groß, blauäugig, also zum Aushängeschild arischer Abstammung hätte man mich benutzen können, wäre da nicht mein Mädchenname Hirschmann und dann auch noch der jüdische Vorname Ruth so manchen Fanatikern ins Gesicht gesprungen. Diese “stolzen Vollarier” trauten diesem Namen nicht und waren ziemlich davon überzeugt, dass man sich in meiner väterlichen Familie unvorsichtigerweise mit jüdischem Blut “besudelt” hätte. Im Laufe der Zeit bekam ich den Eindruck, dass ich mich, wegen meines Namens, zu entschuldigen hätte.
Da konnte ich ja von Glück sagen, dass mein Vater nicht Ignaz, sondern Ferdinand hieß und auch christlich getauft war, was aus den entsprechenden Dokumenten ersichtlich war. Und Dokumente gab es noch und nöcher, denn der sogenannte Ariernachweis, der musste ja bis zu meinen Urgroßeltern nachgewiesen werden, was deshalb besonders schwierig war, da der Geburtsort meines Vaters Pressburg war, er in Ungarn aufgewachsen und die meisten Dokumente erst aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt werden mussten.

Es müssen wohl Wochen, ja, Monate höchster, nervlicher Anspannung für meine Eltern gewesen sein, bis alle Papiere vorlagen, denn wer kann es schon wissen, ob nicht doch vor über hundert Jahren ein Familienmitglied auf dem Rassenparkett ausgerutscht war. Mit einer jüdischen Urgroßmutter, da war man ja schon für das Große Dritte Reich sozusagen untauglich, ein Erbinvalide, ein Drittklässler, der sich die Lebensmittelkarten höchstens selbst malen konnte. Wie gesagt, über meinen Namen konnte man ganz schnell die Nase rümpfen, was mich zuweilen völlig aus dem Häuschen brachte.

Mit zehn Jahren, da fühlte ich mich schon wichtig, denn wir sammelten für die armen Auslandsdeutschen , bastelten Spielzeug für Waisenkinder oder halfen alten Kriegerwitwen. Was wussten wir denn davon, dass zum Beispiel die Deutschen im Ausland in einer Freiheit leben konnten, die wir gar nicht vermissten, da wir sie ja nicht kannten. Elf Jahre jung war ich, als aus allen Radios die Jubelmeldung vom Einmarsch deutscher Soldaten in Polen lautstark ertönte und ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich es für völlig unfassbar fand, dass meine Eltern in diesen Jubel nicht einstimmten.

Der Vorbote des Krieges war wohl die Führerparole “Heim ins Reich”, die aus allen Lautsprechern tönte, die Überschriften der Zeitungen schmückte und in aller Munde war. Und wir, das Jungvolk, wir fanden es einfach wunderbar, dass unsere Brüder und Schwestern; die noch im Ausland leben mussten, endlich wieder frei sein würden und nicht von den Litauern, Österreichern, Slowaken und Polen und anderen feindlich gesinnten Menschen drangsaliert wurden. Hatten wir doch schon so oft die blauen Kerzen gekauft, die dann in feierlichem Gedenken an die Auslandsdeutschen auf jeder Schulbank flackerten oder manchmal abends in die Fenster gestellt wurden, damit alle es sehen konnten, dass dieses “Heim - ins - Reich” zum inneren Anliegen des gesamten deutschen Volkes geworden war. Unsere Brüder und Schwestern, sie sollten es doch so gut haben wie wir und nicht in Gebieten gezwungenermaßen leben müssen, die man uns nach dem Weltkrieg einfach weggenommen hatten. Speziell England und Amerika hätten sich als Richter aufgespielt und unser Deutschland immer mehr eingeengt und wer regiert denn dort? Das Kapital. Und wer hat das Kapital? Die Juden. Und so war man wieder da angelangt, wo die antisemitische Giftspritze verabreicht wurde.

Soweit ich mich erinnere, war der Jubel bei vielen Auslandsdeutschen dann wirklich ungeheuer groß, als sie eines Tages in das “Tausendjährige Reich” eingemeindet wurden. Hätte man eine Volksbefragung damals gemacht, so hätte sicher die Mehrheit für die Heim - ins - Reich - Aktion gestimmt. Besonders viele Österreicher waren nicht nur im Glückstaumel, sondern obendrein auch noch darauf stolz, dass dieser “große Weltverbesserer, der Kämpfer für die Gerechtigkeit”, dass Hitler ein geborener Österreicher war. Nach dem schmachvollen Ende der großen Nation samt seiner Heimgerufenen, da ist allerdings auf wundersame Weise so vieles in völlige Vergessenheit geraten und dazu gehört auch, dass Hitler ein echter Österreicher war.

Wie gesagt, die Heim-ins-Reich-Parole - sie war der Auftakt zum Krieg und dem folgenden Siegestaumel, eines völlig berauschten Volkes, der sich zum wahren Größenwahn aufschaukelte, denn bald sangen wir:

“Wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.”

Ob schon vor dem Krieg oder erst später, ich weiss es nicht mehr so genau, wir liefen immer öfter mit scheppernden Sammelbüchsen durch die Stadt, verkauften Anstecknadeln und bedrängten Freunde und Familienmitglieder, sich spendabel für die Aktion Winterhilfe zu zeigen. Gegen Abend saßen wir dann in der Sammelstelle, wo die Münzen und Scheine der Büchsen gezählt wurden und gingen mit stolzgeschwellter Brust nach Hause.

Der Führer und das ganze deutsche Volk, das brauchte uns. Wir sollten ja auch aufpassen, dass zum Beispiel der Eintopfsonntag auch tatsächlich eingehalten wurde. Eintopfsonntag, das war einmal im Monat und da stand dann auf dem Kasernenhof eine Gulaschkanone mit duftender, deftiger Erbsensuppe mit Speckstücken, die man gegen eine Spende für die Winterhilfe dort essen konnte. Wer nun aus irgend welchen Gründen nicht zur der allgemeinen Atzung gehen konnte oder wollte, der war dazu angehalten, dass er an dem besagten Eintopfsonntag auf Braten mit Soße verzichtet und aus Solidarität der Familie einen Eintopf serviert. Und darauf also sollten wir aufpassen, dass sich auch die Familie echt deutsch benahm.

Über allem stand das Hakenkreuz, diese Rune der Germanen und jede Begrüßung, selbst unter befreundeten Parteigenossen, war nicht eine gegenseitige Begrüßung, sondern ein Kotau auf den großen Führer “Heil Hitler”. Was nützte es da schon, wenn es Parteigegner gab, die in Gedanken das Heil als Heilung Hitlers aussprachen. Der Deutsche Gruß, so nannte man diese zackigen Begrüßungen und das Hakenkreuzmalen, wurde schon vom Kindergartenalter praktiziert, womit der Name des obersten Befehlshabers täglich unzählige Male in Erinnerung gebracht wurde. Wie sagt man doch? Steter Tropfen höhlt den Stein! Menschen und speziell Kinder sind aber noch viel weicher als Stein.
Die heutige Werbeindustrie, sie könnte sich noch sehr große Scheiben von der Propagandatrommel des Dritten Reiches abschneiden, denn ihre Parolen drangen bis in die entlegensten Winkel der Nation. Der Propagandaminister Goebbels war ein, mit allen psychologischen Wassern gewaschener, Werbetrommler, dessen Sprüche tagtäglich lauthals aus den Lautsprechern tönten oder von den Litfasssäulen ins Auge sprangen und sich ganz unbemerkt in den Köpfen der Bevölkerung einnisteten. Jahrelange, gezielte Berieselung mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus und die nach und nach vollzogene Abkapselung von der übrigen Welt, musste nach seiner Rechnung, zur gewünschten Massenbeduselung führen.
Recht hatte er. Querinformationen und Meinungsaustausch mit anderen Ländern wurden sehr bald, für den Normalbürger jedenfalls, so gut wie unmöglich, denn die einzige Quelle, Radio BBC, konnte er nur unter dem Damoklesschwert einer Verhaftung durch die Gestapo hören. Ganz davon abgesehen, reichte die Frequenz der üblichen Volksempfänger gar nicht so weit.

Die vom Propagandemogul Goebbels verbreiteten Feindbilder wirkten nachhaltig und wurden noch besonders dadurch gestärkt, dass über diese sogenannten Volksfeinde, auch Untermenschen genannt, Greuelmärchen verbreitet wurden, die die Masse glaubte, da sie niemand kontrollieren konnte. Das stärkste Geschütz, das von dem größenwahnsinnigen Hitlerregime aufgefahren wurde, das war die, auf die Zukunft zielende Einflussnahme auf Kinder und Jugendliche, deren unterschwellige Willenslenkung oft ohne Zutun der Eltern erfolgte. Mit welch ausgeklügelter Raffinesse das Hitlerregime vorging, um Kinder und Jugendliche für ihre hinterhältigen Zwecke zu missbrauchen, das ist an folgendem Erlebnis sehr gut zu erkennen.

Eine besonders parteifreundliche Studienrätin empfahl uns Quintanern, den Film JUD SÜSS anzuschauen, da sie mit uns später darüber sprechen und auch danach einen Aufsatz schreiben lassen wollte.
Es ging meinen Eltern ganz bestimmt nicht um die sechzig Reichspfennige, die der Eintritt kostete, sondern viel mehr darum, dass der Film JUD SÜSS als Anschauungsmaterial für Kinder keinesfalls geeignet sei. Müde meiner mauligen Antworten: “Aber Helga und Gerda dürfen, warum ich nicht? ” oder “Wenn wir in der Klasse darüber sprechen sollen, dann bin ich vielleicht die Einzige, die nicht im Kino war. Außerdem kriege ich dann für den Aufsatz bestimmt eine Fünf!” Die Freundinnen standen schon wartend vor der Tür und dann endlich, erhielt ich die Erlaubnis. Freudig hüpfend zogen wir ab, denn es ging ja eigentlich gar nicht um den Film, sondern zunächst nur um die Tatsache, dass wir außer der Reihe ins Kino durften und obendrein auch noch von den üblichen Hausaufgaben befreit waren.
Der Film in seiner Gesamtheit vermittelte uns eine dunkle, unheimliche Welt, in der ein bärtiger, böser Mensch im schmutzigen Kaftan, dieser Jud Süss, sein Unwesen trieb. Ohne die Zusammenhänge überhaupt zu begreifen, sahen wir, wie dieser gemeine, böse Unmensch, Frauen und Männer in Not und Elend stürzte und danach nur grinsend seine Taler zählte. Sein Gesicht, seine Gestalt, alles an ihm furchteinflößend, abstoßend, einfach abscheulich. Mit tränennassen Taschentüchern in den verkrampften Händen und aufgerissenen Augen verfolgten wir den Film wie die Kaninchen vor der Schlange und ahnten gar nicht, dass man unsere Gefühle missbraucht, dass man uns mit dem Virus der Judenverachtung geimpft hatte.
Es musste ja gar nicht Hass sein, den wir empfinden sollten, das Gefühl der Angst genügte vollkommen.
Wie gesagt, vom Standpunkt der politischen Propaganda gesehen, waren derartige Strategien einfach hervorragend und zeigten eine nachhaltige Wirkung, die, wenn es nicht zum totalen Zusammenbruch gekommen wäre, sich ganz sicher noch auf weitere Generationen übertragen hätte.

Ich glaube, es war im dritten oder vierten Kriegsjahr, dass Hitler sich zum obersten Befehlshaber der Wehrmacht krönte und verlangte, dass auch der militärische Gruß abgeschafft und an Stelle dessen der Führergruß eingeführt werden müsse. Der größte Teil der Wehrmachtsangehörigen empfand diesen Führerbefehl als degradierend und wie muss sich das Offizierschor wohl gefühlt haben, dass sie nun einem ehemaligen Gefreiten unterstanden, der obendrein noch etwas abschaffte, was seit Generationen beim Militär gültig war. Dennoch waren sie dazu gezwungen, seine Befehle auszuführen. Was hätte es schon genützt, den Hitlergruß zu verweigern? Sicher wäre es einer Majestätsbeleidigung gleichgekommen und dafür waren Strafkompanie, wenn nicht sogar die Todesstrafe fällig. Jeder, der sich nicht mit dem herrschenden Regime verbrüdern wollte oder konnte, der war ein Feind, ein Deserteur, ein Verbrecher, der sein Leben verwirkt hatte. Es gab keine Grauzonen mehr, es gab nur noch schwarz-weiß-rot. Gewiss, man kann das Damals nicht mit dem Heute in einen Topf werfen und dennoch bekam ich eine Gänsehaut, als die Stimme Amerikas von der Achse des Bösen sprach und damit das Entweder-Oder in der Welt verkündet.

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