Kurzgeschichte 06: “Der alte Studienrat”

Kriegszeiten in Deutschland - Eine wahre nachdenkliche Geschichte

Je älter ich werde, um so aufdringlicher gebärden sich Kindheits- und Jugenderinnerungen, die plötzlich aus dem Gestrüpp meiner Vergangenheit auftauchen, mich nachdenklich und manchmal auch traurig stimmen. Nachdenklich, weil es Jahrzehnte gebraucht hat, bis ich den tieferen Sinn so mancher Begegnung erkannte, die ich zu der damaligen Zeit überhaupt nicht begriffen habe und traurig, weil ich daran nun nichts mehr zu ändern vermag.

Meinen Schulweg zum alten Lyzeum mit den knarrenden Holztreppen legte ich als Zwölfjährige im viertelstündlichen Schlendrian zurück und freute mich besonders auf jene Unterrichtsstunden, die wir bei einem alten Lehrer, Herrn Studienrat Falke hatten, denn ihn konnten wir Mädchen glatt um den Finger wickeln und fast täglich vom ursprünglichen Unterrichtsplan abbringen, damit er uns alte Lieder und Gedichte vortrug. Außer einem humpelnden und ziemlich strengen Schuldirektor war unser alter Falke, so nannten wir ihn insgeheim, der einzige männliche Lehrer, denn nach und nach war das gesamte, männliche Lehrerkollegium verschwunden und nicht wenige auf Nimmerwiedersehen.

Es war das zweite Kriegsjahr und wer da nicht die Gnade hohen Alters oder irgend einer gesundheitlichen Untauglichkeit aufzuweisen hatte, erhielt seinen Marschbefehl zum Feld der Ehre, wo er ganz fix zum kleinen Rädchen im Uhrwerk der großdeutschen Kriegsführung gedrillt wurde. Vaterland, Soldatenehre, Heldentod, das waren Worte, die uns Kindern auf Schritt und Tritt begegneten, denen wir andächtig lauschten ohne deren so schmerzvollen Sinn auch nur zu ahnen.

Jeder deutsche Mann hatte die verdammte Pflicht, sein Vaterland zu verteidigen, hatte sich freiwillig an die Front zu melden und wem da Frau und Kinder, Braut und Eltern näher am Herzen lagen, als zur Waffe zu greifen, der wurde ganz einfach zwangsweise eingezogen. Was wussten wir Kinder denn von den Tränen der Frauen und Mütter, wenn sie ihren Lieben ein letztes Mal zuwinkten, nicht wissend, ob es nicht auch unwiderruflich das allerletzte Mal sein würde. Wir sollten stolz auf unsere Väter und Brüder sein, die fern der Heimat für uns kämpften, stolz auf ihren Siegeszug und jubeln, wenn ihre mutigen, entschlossenen Gesichter uns im Kino bei der wagnerverbrämten Wochenschau gezeigt wurden. Und gejubelt wurde fast täglich. Dafür sorgten schon die Sondermeldungen über die nicht abreißenden Siege unserer Soldaten, unserer Väter und Brüder, auf die wir stolz zu sein hatten. Ist es nicht sogar verständlich, dass zu kindlichem Stolz auch noch eine gewisse Freude hinzu kam, dass die strenge Hand des Vaters nun mal eben weg war, dass er, gewollt oder ungewollt, nun für die Sondermeldungseuphorie sorgte, denn mit Mutter ging doch alles viel reibungsloser.

Gab es doch tatsächlich Menschen, deren Vaterlandsstolz so grandios war, dass sie den Heldentod ihrer Söhne, jedenfalls nach außen hin, als Geschenk des großen Schnauzbartes hinnahmen.
Führer, wir danken Dir!

Noch heute sehe ich die großen Plakate mit dem schwarzen Schatten und der Warnung “Feind hört mit!” und denke mir heute, dass daneben auch ein Plakat mit der Warnung “Nachbar hört mit!” gepasst hätte, denn es war doch gar nicht ratsam seine echten Gefühle und Gedanken lauthals kund zu tun. Wer konnte denn wirklich sicher sein, dass nicht die eigenen Kinder draußen ausplapperten, worüber und wie man hinter verschlossenen Türen sprach.

Erst nach vielen Jahren habe ich das Erschrecken in den Augen meiner Eltern wahrgenommen, als ich, bislang als ziemlich gehorsame Tochter, ihnen frank und frei erklärte, dass sie mir gar nichts verbieten dürften, an den Treffen der Jungmädel teilzunehmen. Hatte doch die Scharführerin uns Knirpsen unmissverständlich gesagt, dass Eltern nicht das Recht hätten, sich störend in unsere JM-Gemeinschaft einzumischen. Und über allem schwebte das Bild des Führers, der schon fast mit Gott gleichzusetzen war.
Für uns Kinder jedenfalls, denn Gott konnte man nicht sehen, doch den Führer konnte man, und eines Tages vielleicht sogar einen Blumenstrauß in seine Hand drücken. Konnten unsere Eltern mit uns Kindern, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, wirklich darüber sprechen, was sie im tiefsten Innern dachten?

So waren wir von Maskierten umgeben, erhoben den Arm zum deutschen Gruß, waren kindlich stolz, wenn wir in blauem Rock, weißer Bluse und Kletterweste, Schartuch mit Lederknoten nicht zu vergessen, bei eindrucksvollen Feiern Lieder sangen und Fähnchen schwenkten. Fühlten uns enorm wichtig, wenn wir, trotz klirrender Kälte, auf den Straßen für die Winterhilfe sammelten und kleine Anstecknadeln verkauften. Unsere Wichtigkeit blähte sich unheimlich auf, wenn wir in echten Marschkolonnen, links, zwei, drei, vier, durch die Stadt marschierten, ein Lied schmetterten und alle, selbst unsere unbeliebtesten Paukerinnen unsere Fahne grüßen mussten...

Unentbehrlich fühlten wir uns. Ob wir nun Mullbinden für die Verwundeten aufrollten, Laubsägearbeiten zur Weihnachtsbescherung für väterlose Kinder anfertigten, alten Menschen schwere Taschen trugen oder auf dem Bahnhof heiße Getränke und belegte Brote an die zur Front durchreisenden Soldaten verteilten, wir wurden gebraucht.

Noch bevor in unserer Schule das männliche Lehrerkollegium in Auflösung geriet, verschwand dann auch plötzlich unser geliebter Hausarzt Dr. Kohn und es folgten viele Personen, die in unserem Hause ein- und ausgingen. Und ganz plötzlich begannen die Erwachsenen meines kindlichen Umkreises in meiner Gegenwart, im Flüsterton miteinander zu reden. Da Erwachsene, aus meiner kindlichen Sicht, ja immer irgend welche Geheimnisse mit sich herumtragen, fand ich es einfach ungehörig, Fragen zu stellen, die sie mir doch nicht ehrlich beantworten konnten oder durften.

Dennoch, ich hatte Fragen. Warum hatten über Nacht so viele Kinder und Erwachsene einen gelben Stern auf ihren Mänteln? Warum verließen diese Gelbsternmenschen den Bürgersteig und gingen auf der Fahrbahn, wenn wir ihnen begegneten? Warum brannte eines Tages neben unserer Schule die Synagoge und keiner löschte den Brand? Warum gab es zertrümmerte Schaufenster einiger Geschäfte und was hatten diese Menschen denn getan?

Die Antwort auf all diese Fragen erhielt ich dann, viel zu klein, viel zu jung, um an der Richtigkeit dieser Massenmanipulation zu zweifeln. Es war der Film JUDE SÜSS. Dieser Jude Süss verfolgte mich in meinen Träumen. Er, der die Menschen ins Verderben stürzte durch seine Zinsforderungen, der Mädchen vergewaltigte und überhaupt ganz furchterregend aussah, er stand nun für all die “Gelbsternmenschen” und da brauchte ich nun auch keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Diese Menschen waren mir einfach unheimlich. Ich hatte Angst vor ihnen. Später, als auch die gelben Sterne immer spärlicher wurden, da gerieten sie bei mir in Vergessenheit und wurden erst Jahre später für mich zur traurigsten Wahrheitsfindung.

Auch die Erinnerung an den alten Studienrat Falke gehört in die Schublade meiner ahnungslosen Kindheit. Wir Schulkinder haben ihn benutzt, um einfach mal Pause zu machen, ihm zuzuhören und dadurch natürlich auch weniger Hausaufgaben zu erhalten. Dieser alte, schlanke, fast zerbrechliche Mann, ich sehe ihn auch heute noch ganz deutlich vor mir, setzte sich dann seitlich auf den höheren Teil einer Schulbank in unserer Mitte. Es war mäuschenstill und er fing an, Gedichte zu deklamieren, die unendlich traurig und schön waren. Für unser Alter manchmal etwas unverständlich. Doch es mag wohl seine Stimme und diese große Andacht, die von ihm ausgestrahlt wurde, gewesen sein, die uns in Bann hielt. Als Höhepunkt und Abschluss, zog er dann seine Taschenuhr heraus, klappte sie auf und sang mit Tränen in den Augen, die manchmal auch an seinen Wangen herunter liefen, das Lied von unsagbarer Traurigkeit.

Wir hörten einem Menschen zu, dessen seelische Verzweiflung einem Selbstmord gleichkam. Wie ahnungslos waren wir und wie unbewusst brutal, denn wenn die Schulglocke zur Pause rief, liefen wir hinaus und hatten alles vergessen. Und ganz in Vergessenheit geriet auch unser Falke, nachdem er dann eines Tages nicht mehr zum Unterricht erschien und auch weiterhin für uns unsichtbar blieb.

Vielleicht zehn oder fünfzehn Jahre später erfuhr ich durch Zufall, dass Herr Falke mit einer Jüdin 30 Jahre glücklich verheiratet war und er dann ohnmächtig zusehen musste, wie man sie abholte und dorthin deportierte, von wo es kein Zurück mehr gab. Und ich erfuhr auch, dass seine selbstmörderischen Absichten, indem er uns Gedichte und Lieder deutsch-jüdischer Poeten und Komponisten vortrug, von Erfolg gekrönt waren. Ein oder zwei, vielleicht sogar drei Kinder aus unserer Klasse hatten darüber zu Hause berichtet und damit unseren Falken in den Tod getrieben. Er wurde von der Gestapo abgeholt und als Volksverhetzer zum Tode verurteilt.

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