Kurzgeschichte 08: “Vom Gaslicht zur Kristallnacht”

Manipulierte Jugend im zweiten Weltkrieg - Eine wahre nachdenkliche Geschichte

Im Winter, der ab November bis in den März hinein dauerte, war die ganze Stadt vom Schnee wie in Watte gepackt. Selbst das Motorgeräusch der wenigen, vielleicht vier oder fünf Autos, die es damals in der Stadt gab, wurde von der weißen Watteschicht geschluckt. Der Straßenverkehr war musikalisch, man hörte von den vorbeifahrenden Fuhrwerken nur noch die verschiedenen Tonarten der Schlittenglöckchen und hin und wieder einen Peitschenknall.

In der heutigen, lärmenden Zeit, sind das Bilder aus dem Märchenbuch.
Die Zäune hatten weiße Hauben, Eiszapfen hingen von den Dächern und die wollenen Fausthandschuhe klebten an den eisernen Türgriffen fest, falls man sie zu lange in der Hand hielt. Es gab Wochen, da fiel das Thermometer auf minus 30 und mehr Grad und die Memel, unser Grenzfluss, war mit einer dicken Eisschicht bedeckt. Da konnte man Kilometer weit auf dem zugefrorenen Fluss mit Rodelschlitten oder Schlittschuhen Wettrennen veranstalten. Erst wenn die Kälte nachließ und die Eisdecke dünner wurde, was man ihr normalerweise gar nicht ansah, da konnte es sehr gefährlich werden.
Es geschah dann doch hin und wieder, dass die Warnungen der Erwachsenen einfach vergessen wurden und es zu traurigen Unfällen kam.

Wenn das Quecksilber der Thermometer stieg, sich der Schnee auf den Straßen langsam in Matsch verwandelte und auch der Schneemann allmählich vor sich hin schmolz, dann wurde der Fluss für uns Kinder zur Schaubühne. Riesige Eisschollen in diversen Formen segelten stromabwärts an uns vorbei mit der Geräuschkulisse berstender, sich vorwärts bewegender Eisplatten und manchmal mit dem Tuckergeräusch eines Eisbrechers, dessen Bug sich langsam in die Eisfläche fraß. Wir wurden nicht müde, uns vom Ufer aus das wechselhafte Schauspiel anzuschauen.
Die in der Stadt befindliche Zellstofffabrik benötigte für die Produktion große Mengen Holz und dieser Rohstoff kam stromabwärts aus Russland, direkt in den Zellstoffhafen. So sah man fast täglich auf der Memel große Holzflöße mit den Baumstämmen aus russischen Wäldern vorbei schwimmen, auf denen ein oder zwei Flößer mit langen Stangen und lautem Rufen damit beschäftigt waren, die Fahrtrichtung zu korrigieren. Auf dem Hauptfloß stand zumeist eine kleine Holzbude, die den Flößern während der tagelangen Reise als Unterkunft diente. Wie umweltfreundlich waren doch seinerzeit die Transportmöglichkeiten.
An Samstagen marschierte mit Tschingderassabum und Fahne, aus dem unserem Hause gegenüber liegenden Vereinshaus des Kyffhäuserverbandes, eine Gruppe dunkel gekleideter, älterer Herren. Das waren die Veteranen des ersten Weltkrieges, die ganz bestimmt ihren, seit Kriegsende in der Versenkung verschwundenen, alten Kaiser Wilhelm wieder haben wollten und sich, in Erinnerung an alte Zeiten, versammelten. Das war für mich das Signal, alles sofort liegen und stehen zu lassen, die Treppe herunter zu rasen, und dann wenigstens ein Stückchen weit, neben der riesigen Pauke zu marschieren, deren Bumbum so herrlich in meinem Bauch kribbelte. Es kam noch etwas hinzu, was zu meiner kindlichen Fantasie gehörte und das war die Annahme, dass irgend wann auch Kaiser Barbarossa mit seinem unendlich langen, roten Bart, zwischen den marschierenden Veteranen auftauchen würde. War er doch, wie mir Oma erzählt hatte, in der Kyffhäuser Burg mit ständig wachsendem Bart verzaubert und eingeschlossen und wartete darauf, dass er wieder befreit würde. Wenn das die Männer vom Kyffhäuserverein nicht könnten, wer sollte das denn sonst fertig bringen?
Nicht nur eine Pauke, sondern zwei, das hatte der Musikzug des Dragonerregiments und das war natürlich ein atemberaubender Auftritt, wenn dieses Regiment hoch zu Ross durch die Straßen zog. Besonders beeindruckend war der Schimmel mit den beiden Kesselpauken, auf dem der Paukenschläger mit seinen Stöcken tolle Kunststücke vorführte, die wir Kinder sprachlos bestaunten. Wenn dann noch der weiß behandschuhte Kommandeur lächelnd zu uns Knirpsen herunter grüßte, dann war das fast wie Weihnachten. Allerdings mit dem Geruch von Pferdeäpfeln begleitet.

Die Zeit der Gasstrümpfe, die man für die Gaslampen kaufte und die Gaszähler, die im Flur installiert waren und mit speziellen Münzen gefüttert werden mussten, falls man schon an die moderne Gasverteilung angeschlossen war, das alles gehörte so ganz allmählich dann auch schon der Vergangenheit an. Die Straßenlaternen wurden zwar noch viele Jahre von den Männern mit den langen Stangen angezündet und gelöscht, doch die Gasbeleuchtungen in den Häusern machten nach und nach der Elektrizität Platz. Bei dem ganzen Elektrizitätssegen blieb es nun auch nicht aus, dass Stadtväter und Bürger mit der Idee einer Elektrischen (so nannte man dort die Straßenbahn) schwanger gingen, doch es dauerte noch längere Zeit, bis sie von dieser Idee entbunden wurden. Zunächst mussten ja erst Schienen und die erforderliche Oberleitung quer durch die Stadt gelegt werden.
Diese Wühlarbeit vollzog sich auch vor unserem Haus und war für uns Kinder ziemlich aufregend. Besonders hatten es uns die Presslufthämmer angetan, die mit lautem Pschschuuh auf die Kopfsteine donnerten und mit einem Pffff wieder nach oben schnellten. Es muss eine kräftezehrende Arbeit gewesen sein, diese schweren, meterhohen Apparate zu handhaben, denn die nackten Oberkörper der Männer waren von Schweiß überströmt. Eine schlecht bezahlte Schwerstarbeit, die diese Männer vermutlich sehr früh zu Invaliden gemacht hat. Nun ja, als Kind, hat man sich darüber natürlich keine Gedanken gemacht, da überwog das ungeduldige Warten auf die erste Bimmelbahn, mit der man dann doch auch bestimmt und endlich durch die Stadt fahren dürfe. Ich durfte und war völlig aus dem Häuschen als mir, natürlich in elterlicher Begleitung, diese “elektrische Sausefahrt” beschert wurde. Ich überlege gerade, was man in der heutigen Zeit einem fünf- bis siebenjährigen Kind wohl bieten müßte, um es in einen solchen Begeisterungstaumel zu versetzen?
Unsere kindliche Befürchtung (es soll da übrigens auch Erwachsene gegeben haben) dass man beim Rauftreten auf die Schienen einen elektrischen Schlag bekommen könnte, wurde durch lächelnde Erklärungen der Erwachsenen beseitigt, doch trotzdem blieben die Schienen speziell für uns gefährlich. Nämlich dann, wenn wir mit unseren Fahrradreifen in eine Schiene gerieten und dadurch meist die Balance verloren. Das konnte man nur mit Vollballonreifen vermeiden, doch das war, für Kinder jedenfalls, ein unnötiger Luxus und so vermieden wir tunlichst, mit unseren Schmalspurrädern die Straßenbahnschienen.

Die unersättliche Zeit fraß nach und nach alles das auf, was zum damaligen friedlichen Ambiente der Stadt gehörte Es wurde lauter und natürlich auch ein wenig moderner. Ein keuchendes, klapperndes Ungetüm, das über das Kopfsteinpflaster hoppelte, so empfand ich die erste Begegnung mit einem Automobil und habe mir ganz sicher nicht vorstellen können, dass recht bald mehrere Monstren dieser Art die Straßen und Landwege bevölkern würden. Großvater, der damals bei derartigen Entscheidungen, das absolute Familienoberhaupt war, stand diesem neumod’schen Kram vorerst noch sehr skeptisch gegenüber und so zockelten wir, mit Hottehü und Pferdegetrappel, in diversen Kaleschen, noch längere Zeit durch die Stadt. Das änderte natürlich nichts an der Tatsache, dass sich das Straßenbild so nach und nach durch die hupenden Vehikel veränderte und weitere Modernisierungen nach sich zog.
Es konnte passieren, dass so ein Automobil, ratternd und hupend an uns vorbei, hinter einer Staubwolke auf dem Landweg verschwand und wir dann nach einigen Kilometern dieses Töfftöff am Wegesrand sahen, wo es aus allen Nähten Dampf versprühte. Daneben standen dann, für damalige Zeiten, recht merkwürdig gekleidete Gestalten mit Ballonmütze, Knickerbockern und Rennfahrerbrille, die recht erleichtert schienen, dass da jemand mit nur zwei Pferdestärken auftauchte und vermutlich hilfreich sein konnte. Meist war es dann unser Kutscher, der den komisch gekleideten Autofahrern dabei half, den Motor wieder mit einer großen Kurbel anzuwerfen, denn diese besagte Kurbel hatte einen derart starken Rückschlag, dass es schon kräftiger Männerarme bedurfte, um damit erfolgreich zu hantieren.

Die Jahre zwischen meinem zehnten und sechzehnten Lebensjahr füllten sich mit Ereignissen, die unter normalen Umständen für ein ganzes Leben ausreichen, ganz zu schweigen, was noch danach kam. Es passierten so viele Dinge in rascher Folge, dass nicht nur Kinder, sondern auch so manche Erwachsene, kaum zum tieferen Nachdenken kamen.

In diese Zeitspanne gehört vermutlich auch die Erinnerung an ein damals für mich völlig unbegreifliches Erlebnis. Auf meinem täglichen Schulweg kam ich eines Tages an Geschäften vorbei, deren zertrümmerte Schaufenster den Blick auf ein heilloses Durcheinander freigaben. Der Bürgersteig war hier und da von Glasstücken bedeckt und ich musste einen Bogen zum Fahrdamm hin machen, um den Scherben auszuweichen. Die erste Schulkameradin, die ich traf, erzählte mir ganz aufgeregt, dass in ihrer Straße ein Jude glatt aus seinem Wohnungsfenster, im dritten Stock, gesprungen sei und mit zerschmettertem Körper gefunden wurde. Vermutlich, weil er was Schlimmes angestellt habe, so meinte sie und das genügte uns auch als Erklärung. Je näher wir unserer Schule kamen, um so stärker wurde ein durchdringender Geruch von verbranntem Holz und Mörtelstaub und dann sahen wir auch, woher dieser Gestank kam. Es war die in Brand gesteckte Synagoge, die direkt neben dem Lyzeum stand, aus der der Qualm noch schwelender Balken
drang. Eigentlich waren wir gar nicht entsetzt über diesen Anblick, denn wir waren schon immer im Laufschritt an diesem Gebäude vorübergegangen, da man uns in der Schule von geheimnisvollen Riten erzählt hatte, die dort stattfanden und dass auch nur Juden dort Zutritt hätten. So war, wie alle verschlossenen und geheimnisvollen Dinge für Kinder, diese Kirche, die gar nicht wie eine Kirche aussah, ein Gebäude hinter dessen Tür sich sicher gruselige Dinge zutrugen. Was noch für uns im Moment viel wichtiger war, als die morgendlichen Erlebnisse, wir hatten schulfrei!, wodurch wir gedanklich sogleich damit beschäftigt waren, wo und was wir an diesem geschenkten Tag spielen könnten.
Ich kann mich nur noch dunkel daran erinnern, dass meine Eltern während des Mittagessens ziemlich erregt und wohl auch darüber froh waren, mich für die nächsten Stunden los zu sein, die ich bei einer Freundin verbringen durfte.

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