Kurzgeschichte 04: “Das Huhn aller Hühner”

Die Geschichte unseres einzigen Huhnes - Eine wahre, liebevolle und traurige Geschichte

Sie stolzierte eines Tages auf unser Grundstück, stellte sich vor den großen Spiegel, den wir im offenen Schuppen abgestellt hatten, nickte ihrem Spiegelbild zu und fand es offensichtlich zufriedenstellend.

Nach und nach inspizierte sie das gesamte Terrain, schritt majestätisch wieder zum Spiegel und hielt dort eine glucksende Zwiesprache, deren Inhalt uns leider nicht zugänglich war.

Eines stand fest, dieses braune Huhn war nicht nur eine Schönheit, sondern wohl auch überdurchschnittlich intelligent und selbstsicher in ihren Entscheidungen, was dazu führte, dass sie sich nun bei uns nestlich niederließ. Die Selbstverständlichkeit ihres Einzuges und die damit verbundenen Blicke unter dem roten Kamm konnte man nicht anders deuten als: “ Ihr sollt keine anderen Hühner neben mir haben”, was von uns dann auch in bibelfester Art beherzigt wurde.

Aufgrund ihres umwerfenden Anblicks hätten wir sie eigentlich Cleopatra oder so ähnlich taufen müssen, doch nahmen wir dann doch davon Abstand und nannten sie einfach LINA., als Abkürzung von Gallina. Sie hat es zunächst mit Fassung ertragen und später dann voll und ganz akzeptiert, obwohl sie sich nach und nach alles was hier so kreucht und fleucht zum Untertan machte. Das, was wir nicht schafften, nämlich unseren Katzen Respekt beizubringen, das schaffte Lina und im Laufe der Zeit zuckten sogar die Pflanzen zusammen, wenn ihre Majestät Lina an ihnen vorbei stolzierte.

Schon am ersten Abend richtete Lina sich ihr Schlafzimmer auf einem Savinabaum ein, auf dessen Äste sie trotz Sturm und Regen bis zum Sonnenaufgang ihre Hühnerträume auslebte. Für uns viel zu früh, für sie allerdings gerade richtig, stieg sie von Ast zu Ast herunter und begann mit irgendwelchen Gesängen, die mehr oder weniger als Spektakel zu bezeichnen sind und wurde recht ungehalten, wenn da nicht bald jemand mit dem Körnerfrühstück erscheinen wollte. Nicht zu zählen sind die frühen Morgenstunden, an denen wir aus den Betten fuhren und mit einem unterdrückten Wutgemurmel den Traum vom Endlich-mal-langschlafen vergessen mussten. Sie gewann immer, denn aus irgend einer Tür kam stets jemand, der das Frühstück servierte, was sie, denn gute Manieren hatte sie ja, mit einem freudigen Glucksen quittierte.

Ohne Lina geschah nun nichts mehr auf unserem Grundstück. Sie war überall präsent und noch nicht mal Bauarbeiten oder das Getöse von Maschinen konnte sie davon abhalten, in unmittelbarer Nähe wild hackend und scharrend mitzuarbeiten. Jeder Besuch, jede Aktivität, es gab nichts, was sie nicht registrierte und bei unserem sonntäglichen Frühschoppen lief sie zu allergrößter Form auf. Es war dann nicht mehr unser, es war Linas Tag.

Es konnte passieren, dass Lina die angeborene Vornehmheit, dieses fast schon blasierte Gehabe völlig vergaß, wenn es um frische, grüne Salatblätter oder raschelnde Plastiktüten ging. Da wurde sie zur Zirkusnummer und war sich plötzlich nicht mehr zu fein, meterhoch zu springen oder irgend jemandem etwas blitzartig zu entwenden, was ihr überhaupt nicht gehörte. Geradezu verliebt hatte sie sich in Kurt, der natürlich auch die frischesten Salatblätter mitbrachte und mit ihr sprach, als wäre er selbst schon mal Huhn bzw. Hahn gewesen.
Kurz und gut, Lina nahm stets an unserem sonntäglichen Frühschoppen teil und wurde ganz schnell zum beliebten und unverzichtbaren Mitglied der Runde und wäre es auch noch heute, hätte der Hühnergott nicht anders entschieden.
Soweit wir Lina verstanden hatten, waren die großen, braunen Eier, die sie Tag für Tag in das Nest vor dem Spiegel legte, als Mietzins für Kost und Logie zu betrachten. Im Laufe des ersten Jahres zahlte sie so etwa dreihundert Eier, die manchmal so riesig waren, dass wir schon um ihren Hühnerpopo bangten und fast um Verzeihung baten, wenn wir so eine Schmerzgeburt, ratzfatz verspeisten.
Eines Tages aber lag kein Ei mehr im Nest und auch in den folgenden Wochen blieb der “ Mietzins ” aus. Vermutlich meint sie, dass sie nun mal glucken müsse, so dachten wir und fanden es auch gut, dass ihre Eierproduktion mal eine Pause hatte. Sie war stiller geworden und fegte nicht mehr um die Ecken, wenn sie gerufen wurde. Lina saß in dunklen Ecken, brütete vor sich hin und ließ uns zunächst in dem Glauben, dass dieser Zustand nur eine vorübergehende und ganz normale Hühnerphase sei.
So war es aber leider nicht und viel zu spät merkten wir, dass unsere Lina schwer, eigentlich schon sterbenskrank war. Woher und warum sie diese Erkrankung hatte, das konnte auch der Tierarzt nicht feststellen. Er machte uns allerdings Hoffnung, dass Lina es, bei entsprechender Pflege und Behandlung, überstehen könne. So folgten zwei Wochen zwischen Bangen und Hoffen, Lina wurde wie ein Familienmitglied von uns betreut. Ihr Gesundheitszustand schwankte täglich zwischen Besserung und Aussichtslosigkeit und wenn es auch viele Menschen als überkandidelt ansehen mögen, unser Stimmungsbarometer schwankte ebenfalls täglich mit, bis sie eines Tages, endlich, in den Hühnerhimmel flog.

Noch heute, während ich das hier schreibe, tut es mir leid, dass wir diesem kleinen Tier nicht einen leichteren Abschied beschert haben.

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